No Man is an Island
No man is an island,
Entire of itself.
Each is a piece of the continent,
A part of the main.
If a clod be washed away by the sea,
Europe is the less.
As well as if a promontory were.
As well as if a manner of thine own
Or of thine friend’s were.
Each man’s death diminishes me,
For I am involved in mankind.
Therefore, send not to know
For whom the bell tolls,
It tolls for thee.
Das Gedicht von John Donne wird oft zitiert, um die Verbundenheit der einzelnen Personen mit dem Schicksal aller Menschen zu betonen. Gerade jetzt, in Zeiten der Pandemie, ist es deutlicher als je zuvor: wir sind miteinander verbunden – ob wir es wollen oder nicht. Wir Menschen sind keine Insel und wer sich als Teil eines Ganzen begreift, geht gleichzeitig eine moralische Verpflichtung ein: Die anderen dürfen uns nicht egal sein, denn wir gehören zueinander. In dem Gedicht verbirgt sich auch noch eine andere Wahrheit: Wir empfinden Empathie am leichtesten für diejenigen die uns nahe sind und denen wir ähneln. In Donnes Gedicht sind das europäische Männer. Oft wird gesagt, dass mit “man” eigentlich “human” gemeint ist und viele nehmen in Kauf, dass eine Art kulturelle Blindheit gegenüber allen Nicht-europäischen-Männern entstehen könnte. Das vermeintlich unschuldige “man” plaudert eine verborgene Wahrheit über unsere Gesellschaft aus, die auch für Empathie gültig ist: nicht jede Person löst Empathie in uns aus. Die Forderung nach Empathie zu Zeiten von Corona hat somit eine sehr dunkle Seite. Eine dunkle Seite in fünf Thesen:
1. Empathie diskriminiert
Theodor Lipps war einer der ersten Philosophen der über die Einfühlung oder Empathie geschrieben hat. Der Verhaltensforscher Frans de Waal fasst Lipps Idee so zusammen: “Wir können nicht fühlen, was außerhalb von uns vorgeht, doch durch die unbewusste Verschmelzung von ich und anderem klingen die Erfahrungen des anderen in uns nach”. Empathie wird von Lipps demnach als ein Nachhallen von Gefühlen der anderen definiert. Die Philosophin Edith Stein dagegen definiert Einfühlung, als den Glauben, dasselbe Gefühl zu fühlen wie eine andere Person. Wobei wir nach Stein nicht wirklich dasselbe fühlen – es ist die Projektion unserer eigenen Gefühle auf die des anderen Menschen, die wir fühlen. Stein kritisierte Lipps Idee, dass die Erfahrungen der anderen in einer Verschmelzung nachklingen. Wir können, so Stein, nicht wirklich wissen, was die anderen fühlen (denn wir haben einen anderen Körper, andere Erfahrungen etc.), sondern in uns werden Gefühle ausgelöst, die wir auf die andere Person beziehen. Diese Projektionen funktionieren umso besser, je ähnlicher wir der anderen Person sind. Wir glauben, uns besser in eine Person hineinversetzten zu können, der wir ähnlich sind. Eine Person, die so aussieht wie wir, die sich ähnlich anzieht, einen ähnlichen Habitus hat, ähnliche Erfahrungen gemacht hat, einen ähnlichen Bildungshintergrund oder Hobbies hat, eine Person, die unser Geschlecht hat, in so eine Person meinen wir uns besser hineinversetzten zu können als in eine andere Person. Und vielleicht stimmt es und unser Einfühlungsvermögen ist bei uns ähnlichen Menschen akkurater. Das ist das erste Argument gegen einen Aufruf nach mehr Empathie: sie diskriminiert aufgrund von Rasse, Klasse, Alter, sexueller Orientierung und Geschlecht. In einer Pandemie sollten wir unabhängig davon handeln. Das ist schwer, wenn wie in Italien, Entscheidungen getroffen werden müssen, welche Person das Beatmungsgerät bekommt. So schwer es ist, es sollte nicht immer diejenige Person sein die das Beatmungsgerät bekommt, die uns am ähnlichsten ist.
2. Empathie beruhigt das Gewissen
Der Literatur- und Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt definiert in seinem Buch “Die dunkle Seite der Empathie” im Gegensatz zu Lipps Empathie als Miterleben mit dem Bewusstsein einer Differenz zwischen Ich und anderen. Verschiedenheit gehört nach Breithaupt zu Empathie dazu. Er beschreibt, dass zwar eine Reduktion der tatsächlichen Wahrnehmung, aber dadurch häufig ein “Klarheitsvorteil” bei der Person, die sich empathisch einfühlt, entsteht. Wenn wir einen Menschen beobachten, so Breithaupt, sehen wir die Situation manchmal klarer, weil wir zum Beispiel vor der betroffenen Person entdecken, dass sie gleich in eine Gefahr begibt. Das zweite Argument gegen Empathie ist der gefühlte Klarheitsvorteil: ich glaube zu wissen, was das beste für andere Personen wäre, und statt zuzuhören und tatsächlich etwas nützliches für die andere Person zu tun, beruhige ich mit dem Gefühl der Empathie das eigene Gewissen. Beispielsweise das Klatschen zu bestimmten Uhrzeit von den Balkonen (um dem medizinischen Personal Anerkennung zu zollen) kann auf PflegerInnen fast zynisch wirken, wenn man bedenkt, was sie für ein Gehalt bekommen. Gut gemeinte Ratschläge, Yoga-Tutorials und Koch-Tipps an Menschen zu schicken, die gerade jetzt sehr viel arbeiten müssen, oder um ihre Existenz kämpfen, können verletzend sein.
3. Empathie führt zu weniger Solidarität mit denen, die sie wirklich brauchen
“Wer bloß diskutiert oder gar den Rückzug ins Private, die Hygge-Gemütlichkeitskultur zelebriert, die in Wahrheit ein Euphemismus für Abschottung ist, tut nichts zum Wohle des Planeten”, schreibt Melanie Mühl – aber ich glaube wir sollten vorsichtig sein bezüglich eines Aufrufs nach Politisierung der Empathie. Wir brauchen keine Projektion unserer Gefühle und Bedürfnisse auf andere, um uns mit ihnen zu solidarisieren. ÄrztInnen, VerkäuferInnen, PsychotherapeutInnen, CoderInnen, Postangestellte und PflegerInnen müssen gerade jetzt fähig sein eine Distanz zu ihren empathischen Gefühlen aufzubauen, um handlungsfähig zu bleiben. Denn wir wenden uns mit unserer Empathie nicht automatischen denjenigen Personen zu, die unsere Unterstützung oder Solidarität vielleicht am meisten brauchen könnten, zum Beispiel Personen, die Traumata erlebt haben. Die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber beschreibt, dass die Gesichter vieler traumatisierter Personen durch eine existenziellen Erschütterung des Selbst- und Weltbilds wie erstarrt wirken. Wir können es ihnen, in Leuzinger-Bohlebers Worten, ansehen, dass ihre “Seele sich tot stellt”. Die Folge ist, dass wir uns aus Furcht reflexhaft von ihnen abwenden, denn die erstarrten Gesichter erwecken in uns Assoziationen mit extremen Erfahrungen, Todesangst, Hilflosigkeit und Ohnmacht. In einer Pandemie sind es aber gerade diejenigen Personen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, denen wir uns zuwenden sollten.
Nicht nur von Gesichtern, auch von traumatischen Erzählungen, die uns überfordern, wenden wir uns als Menschen ab. In “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft” schreibt Hannah Arendt, dass die Berichte der Überlebenden von Vernichtungslagern “außerordentlich zahlreich und von auffallender Monotonie” seien. “Je echter diese Zeugnisse sind, desto kommunikationsloser sind sie, desto klagloser berichten sie, was sich menschlicher Fassungskraft entzieht. Sie lassen den Leser kalt, stoßen ihn, wenn er sich ihnen wirklich überlässt, in das gleiche apathische Nicht-mehr-Begreifen (…) und sie lösen fast niemals jene Leidenschaften des empörten Mitleidens aus, durch die von jeher Menschen für die Gerechtigkeit mobilisiert wurden.”
Es fällt uns also nicht nur sehr schwer, uns in unähnliche Personen hineinzuversetzen, gerade Personen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, lösen in uns eher Furcht und Flucht-Gefühle als Empathie aus. Es entsteht also eine Diskrepanz zwischen, in wen wir uns einfühlen können und in wen wir uns einfühlen sollten. Daraus ergibt sich ein Problem, wenn wir Empathie als Voraussetzung für Engagement sehen.
4. Empathie bildet eine In- und Out-group
Traumatisierten Personen sollte unbedingt zugehört werden und sie brauchen Unterstützung. Das Erkennen psychischer Traumata muss durch die Unterstützung politischer Bewegungen geschehen – wir brauchen dazu keine Empathie. Judith Lewis Herman nimmt die “Hysterie” als Beispiel. Die Erforschung traumatischer Erfahrungen im sexuellen und häuslichen Bereich, so Herman, ist nur möglich in einem Umfeld, das die Unterdrückung von Frauen erkennt und als ungerecht empfindet. Man kann die traumatischen Erfahrungen mancher Frauen nur erkennen, wenn man die strukturellen diskriminierenden Rahmenbedingungen, die sie zu Unterdrückten machen, sehen kann. In Sigmund Freuds Praxis berichteten die Patientinnen von sexuellen Übergriffen, Misshandlungen und Inzest und bekamen statt einer rechtlichen oder politischen Unterstützung die Diagnose Hysterie. Laut Herman ist Freuds Zuhören in Wirklichkeit ein Nicht-Hören-Können, eine Leugnung der weiblichen Realität, die demzufolge zu absurden Schlussfolgerungen führt. Die aktuelle Pandemie macht einen Kontakt- oder Ausgangssperre sinnvoll, sie ist aber eine großer Gefahr für diejenigen Personen, die häusliche Gewalt erleben. Unsere Wahrnehmung und unser empathisches Empfinden ist immer von Erkenntnisprozessen abhängig, durch unser Wissen über die Lebensrealitäten anderer geprägt und anfällig für Fehlinterpretationen, wenn wir statt zuzuhören nur projizieren.
Empathie macht uns solidarisch mit Menschen, deren Lebensrealitäten wir verstehen können, sozusagen solidarisch mit der “In-Group”. Empathie konstruiert also automatisch eine “Out-Group”. Arendt schreibt zwar über die Mobilisierung für die Gerechtigkeit durch Mitleiden, Empathie ist jedoch nicht moralisch und mobilisiert auch für Ungerechtigkeit. Hitler hat Filme drehen lassen, die Empathie wecken, zum Beispiel zur Rettung vor “dem Juden”. Filme, wie “Jud Süß”, die den Soldaten unmittelbar vor Mordeinsätzen gezeigt wurden und heute noch in rechtsradikalen Kreisen gezeigt werden. Der Psychologe Paul Bloom geht sogar so weit zu behaupten, dass ohne Empathie keine Kriege stattfinden würden. Durch Empathie mit dem Leid eigener Gruppenmitglieder kann das böse Andere konstruiert werden. Das kann zu Verdrehungen der TäterInnen/Opfer Zuschreibungen führen. Die Aktivierung “empathischer” Gefühle hatte zur Folge, dass Nazis sich während der Tötung von Juden und Jüdinnen so fühlten als würden sie sich “aufopfern”, denn sie glaubten den Rest der Gesellschaft vor einer “Gefahr” zu schützen. Während, ironischerweise, ein großer Teil der geflüchteten jüdischen Personen sich mit Gewissensbissen plagte, ihre Mitmenschen im Stich gelassen, sie verlassen zu haben, und zum Teil Suizid begingen, da sich sich selbst als TäterInnen durch Tatenlosigkeit empfanden. Arendt schreibt dazu in “Wir Flüchtlinge”: “Es gibt unter uns jene seltsamen Optimisten, die ihre Zuversicht wortreich verbreiten und dann nach Hause gehen und das Gas aufdrehen oder auf unerwartete Weise von einem Wolkenkratzer Gebrauch machen. Anscheinend beweisen sie, dass unser erklärter Frohmut auf einer gefährlichen Todesbereitschaft gründet.” Die Zuschreibungen von TäterInnen und Opfern können auch in Pandemien ein Narrativ sein, was rassistische Aussagen befeuert.
5. Wahre Empathie macht uns handlungsunfähig
All diese Fälle beschreiben, wie Empathie zu Fehlschlüssen, Verdrehungen, Verzerrungen, Diskriminierung und Projektionen führt, aber nehmen wir mal an, wir könnten tatsächlich fühlen, was unser Gegenüber fühlt: wenn Empathie wirklich bedeutet, dass wir das gleiche fühlen wie eine andere Person, dann wäre geteiltes Leid nicht nur doppeltes, sondern endloses Leid. Wir würden wenn wir eine ängstliche Person sehen auch Angst empfinden, bei einer traurige Person Traurigkeit. Echte Empathie, falls es das gibt, das exakt gleiche zu fühlen wie eine andere Person, kostet uns sehr viel Energie. Wer wahrhaftig empathisch ist, kann niemandem mehr helfen, sondern wird gelähmt durch die Gefühle der anderen.
Mit den Worten von Aby Warburg Bewusstes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen.
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