Ein Essay von Héla Hecker
I. Das zu stiftende Gemeinsame
Arendt praktizierte ein dynamisches politisches Denken. Politisch als Adjektiv bedeutet in ihrem Fall die grundsätzliche Bemühung um eine Welt, die von den in ihr Lebenden als gemeinsame wahrgenommen wird. Das Politische ist daher der geteilte Raum, der gemeinsam gestaltet wird, indem alle Anwesenden ihre Ansichten über das Wie dieser Gestaltung geltend machen können. Das institutionelle Äquivalent dieser idealtypischen Vorstellung sind für Arendt die revolutionären Räte, welche weder die Repräsentation der abwesenden Vielen noch die Summe des Mehrheitswillens sind, sondern der Rahmen für den mühsamen Findungsprozess eines gemeinsamen Wollens und Handelns. Im Hinblick auf diese Bemühung des politischen Denkens, die Welt als gemeinsamen politischen Raum zu gestalten, ist Hannah Arendts Lebenswerk erstaunlich konsequent.
Schon in ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation prangert Arendt das christliche Liebeskonzept der caritas an, weil die so verstandene Nächstenliebe in Wahrheit Weltverlust bedeute: Der andere ist nur als Gottes Kreatur zu lieben und das irdische Leben nur als Zwischenstation in die Ewigkeit, auf dem Weg zu einercivitas dei, zu erdulden. Weder die Mitmenschen als Einzelne noch die Welt, in der man gleichzeitig präsent ist, sind hier von Bedeutung. Dem entgegen stellt Arendt amor mundi, die bewusste Liebe zu dieser Welt, die die Fragilität des menschlichen Seins und die Gefahren der gemeinschaftlichen Existenz annimmt und es ermöglicht, dass die physisch gegebene Erde zum geteilten Wohnort, zur civitas terrena, wird. In ihrer zweiten Monografie über den gescheiterten Assimilationsversuch der Jüdin Rahel Varnhagen (Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik) problematisiert Arendt nicht nur den Weltverlust der Parias, denen es versperrt bleibt, die Welt, in der sie leben, mitzugestalten, sondern auch die weltvernichtenden Auswirkungen der Gefühlskultur der Romantik. Arendt wirft der Rousseau’schen Praxis der Innengewandtheit und Empfindsamkeit bzw. des akribischen Aufzeichnens des Gefühlten vor, dass sie aus konstruierten Emotionen eine Mauer zwischen Mensch und Welt errichtet, um vor der Unberechenbarkeit der Realität zu schützen. Anstatt ein affektives Ausgesetztsein zu erleiden, so Arendt, frönen die Salons der Zeit einer Sentimentalität. Gefühle werden dabei nicht als Instanzen erlebt, die einem zustoßen und einen treffen, sondern als durch Sprachgewalt erzeugte Phänomene, um andere zu beeindrucken und um Herr über die Ereignisse in der Welt zu werden. Um zu verdrängen, dass man sich das Leben nicht selbst gibt, dass das In-der-Welt-Sein radikales Ausgeliefertsein ist, welches nach schützender Interdependenz, nach einem gemeinsam gestalteten Miteinander ruft.
(1) Wie totalitäre Gewalt den geteilten Lebensraum und das individuelle Leben darin zerstört, ist das Thema von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. In Über die Revolution zeigt Arendt die Wege für die (Wieder)Herstellung einer, als gemeinsam wahrgenommenen, Welt auf und in Vita activa oder Vom tätigen Leben bespricht sie die unterschiedlichen Tätigkeitsformen, die für die Gestaltung der gemeinsamen Welt relevant sind. Auch in den kleineren Schriften über Menschen in finsteren Zeiten oder Zwischen Vergangenheit und Zukunft geht Arendt immer wieder der gleichen Frage nach: Was ist die gemeinsame Welt und wie kann sie bewahrt werden?
Durch diese Frage rückt das Phänomen der doppelten Sorge um die Welt ins Zentrum von Arendts Denken: Erstens ist die gemeinsame Welt nicht gegeben, sie muss gegründet werden. Zweitens muss sie vor der Zerstörung geschützt werden. Sowohl die Stiftung als auch die Bewahrung der gemeinsamen Welt bedeuten, dass diese nicht final gegeben ist. Es ist nicht festgelegt, was unter ›gemeinsam‹ verstanden wird, wer dazu gehört, aus welcher Perspektive es bestimmt wird. Die Sorge um die zerbrechliche Welt impliziert, dass das Verständnis vom Gemeinsamen revidierbar ist, sogar sein muss. Denn um sicherzustellen, dass man sich noch um die gemeinsame Welt sorgt und nicht um eine Welt der wenigen, müssen ausgegrenzte Gruppen und neue Generationen mitbestimmen und mitgestalten können. Das Gemeinsame entsteht durch die Zusammenführung partikularer Perspektiven auf die Welt. Diese standortgebundenen Weltwahrnehmungen sind Ausschnitte der miteinander geteilten Welt. Aus ihrer Summe entsteht das Gesamtbild der gemeinsamen Welt.
Die Sorge um die Welt bedeutet daher das Einbinden dieser Perspektiven, der „Pluralität“ in Arendts Vokabular. Doch stellt sich dabei die Frage, wie Pluralität praktiziert werden kann, wenn Menschengruppen, die die gemeinsame Welt und ihre Gestaltung auch betrifft, im Augenblick der Stiftung, (Wieder-)Herstellung, Revidierung der Welt oder einfach beim Gespräch über sie abwesend sind.
In solchen Fällen plädiert Arendt für die Anwendung der von Kant entliehenen Methode der erweiterten Denkungsart. In dem Beurteilungsprozess darüber, was die gemeinsame Welt ist und wie sie gestaltet werden soll, d.h. in der politischen Urteilsfindung, wendet Arendt die Vorstellungskraft an, um präsent zu machen, was abwesend ist: Die Standpunkte derer, die diese nicht aktiv vertreten können. Dabei soll die erweiterte Denkungsart nicht Empathie (2) mit der abwesenden anderen Person heißen, auch soll es nicht darum gehen, sich vorzustellen, wie sich der andere fühlen muss. Arendt argumentiert dafür, mittels der eigenen Vorstellungskraft herauszufinden, wie man selbst in der Situation der anderen fühlen und denken würde. Die eigene Person besucht damit die anderen Lebenslagen und schaut sich die Welt mit den eigenen Augen von einem fremden Standort an.
II. »If I were a Negro mother in the South, I would feel …« (3)
In der Winterausgabe 1959 des Magazins Dissent veröffentlichte Arendt ihren Essay Reflections on Little Rock. (4) In diesem kritisiert sie die sogenannten Brown I. (1954) und Brown II. (1955)-Entscheidungen des Supreme Court, in denen das Oberste Gericht die Segregation der Schulen verbot und die Integration schwarzer Schüler:innen in weißen Schulen verordnete. Gegen die Entscheidung protestierten weiße Menschengruppen gewaltvoll, als afroamerikanische Kinder die Schulen betreten wollten. The New York Times berichtete über den Mob und die Lynchatmosphäre in Little Rock (Arkansas) und in Charlotte (North Carolina) in einem Titelartikel im September 1957. Arendt waren die Ereignisse aus dieser Berichterstattung bekannt.Anhand des Zeitungsartikels urteilte sie in ihrem Essay, dass die betroffenen Kinder von ihren eigenen Eltern instrumentalisiert wurden, um – durch den schulischen Werdegang ihrer Kinder – ihren gesellschaftlichen Status positiv zu verändern. Arendt bezeichnet das Motiv der Eltern als ›social climbing‹ und wirftihnen vor, ihre Kinder der Gefahr und der Gewalt auszusetzen, die sie durch den Wechsel in den weißen Schulen erfuhren. Die Stelle im Little Rock-Text ist jedoch nicht die einzige in Arendts Werk, die die Bürgerrechtsbewegung der Zeit abschätzig bewertet. Besonders schockierend sind ihre Behauptungen über schwarze Studierende in On Violence. (5) Ihnen wirft sie vor, das akademische Niveau zu senken, da sie ohne akzeptable Qualifizierung studieren wollen. Auch behauptet Arendt, dass die Forderung dieser
Studierenden nach Fächern, die die Kultur ihrer Vorfahren thematisieren, ein Hirngespinst sei: sowohl Swahili als auch afrikanische Literatur seien »nonexistent subjects«. (6) Die Sätze, die Arendt niederschreibt und veröffentlicht, sind empörend und erschütternd zugleich und können nicht unbeachtet oder als ›Ausrutscher‹ (7) bewertet werden: »Negro students, the majority of them admitted without academic qualification, regarded and organized themselves as an interest group, the representatives of the black community. Their interest was to lower academic standards. They were more cautious than the white rebels, but it was clear from the beginning […] that violence with them was not a matter of theory. […] it seems that the academic establishment, in its curious tendency to yield more to Negro demands, even if they are clearly silly and outrageous, than to the disinterested and usually highly moral claims of the white rebels, also thinks in these terms […].« (8)
In Reflections on Little Rock argumentiert Arendt des Weiteren, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts die Souveränität der Bundesstaaten in Sachen Bildung verletze bzw. dass Schule nicht zu dem Bereich gehöre, in dem politische Entscheidungen angemessen sind. Schule sei die Erweiterung des privaten Bereichs, nämlich der Verfügung der Eltern über ihre Kinder. Der Staat hätte kein Recht darauf, Eltern vorzuschreiben, wessen Gesellschaft ihre Kinder im Klassenzimmer erdulden müssten. Besonders irritierend ist außerdem Arendts Anmerkung, dass unterdrückte Gruppen im Beurteilen ihrer eigenen Interessen bekannterweise schlecht seien, weshalb sich die Interessenvertretung der Betroffenen (National Association für the Advancement of Colored People) fälschlicherweisefür die Aufhebung der Schulsegregation und nicht für die Aufhebung des Mischehen betreffenden Verbots einsetzte. Die Herausgeber des Magazins Dissent distanzierten sich gleichzeitig mit der Veröffentlichung vom Inhalt des Aufsatzes und publizierten zwei Kommentare von David Spitz und Melvin Tumin. Spitz kritisiert Arendts Verständnis der Schule und zeigt auf, dass gleiche Chancen auf gute Bildung die Voraussetzung von Gleichheit im Erwachsenenalter sind. Tumins spürbar aufgebrachte Replik bewertet Arendts Gedanken als »metaphysical mumbo jumbo« (9) und bezeichnet Arendt ab einem Punkt nur noch als Miss A., die am besten Erwachsenenbildungskurse für NAACP-Mitglieder durchführen sollte, um denen beizubringen, wie man sich für die richtigen Interessen einsetzt.
In der darauffolgenden Dissent-Ausgabe erhielt Arendt die Möglichkeit, auf die publizierte Kritik öffentlich zu antworten. In ihrem Text weist sie die Einwände gänzlich zurück und setzt sich daran, ihre Argumentation »on a different, less theoretical level« (10) zu wiederholen, damit sie endlich alle verstehen. So erklärt sie, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kam, nämlich durch die pluralitätsstiftende Methode der erweiterten Denkungsart. Sie habe sich gefragt: »What would I do if I were a Negro mother?« und »What would I do if I were a white mother in the South?« und hat darauf einmal im Fall der weißen und dreimal im Fall der schwarzen imaginären Mutter geantwortet: »I would feel…«. Während sich Arendt an der Stelle der weißen Mutter darüber empören würde, dass sie als Staatsbürgerin nicht nach ihrem Einverständnis gefragt wurde, würde sie sich als Mutter eines schwarzen Kindes um die Sicherheit des Nachwuchses und um die eigene Integrität sorgen, weil sie sich durch den Staat dazu gezwungen sähe, zum Emporkömmling zu werden. Arendt bleibt also ihrer methodischen Überlegung darüber, wie man die Welt in ihrer Gesamtheit, alle Perspektiven integrierend, erfahren und für die Entscheidung über die Art und Weise der Sorge um die gemeinsame Welt einbeziehen könnte, treu. Sie maßt sich zwar nicht an, zu wissen, wie der Weltausschnitt in den Augen der Betroffenen aussieht und beschreibt ausschließlich, wie er aussehen würde, würde Hannah Arendt am Standort der Betroffenen stehen, doch wird die monologische und vor der realen Erfahrung verschlossene Struktur ihrer Methode am Beispiel Little Rock offensichtlich. Arendt fragt weder nach den spezifischen Erfahrungen derjenigen, die die Leidtragenden sind noch integriert sie die Ereignisse in den naheliegenden Kontext historisch gewachsener, systematischer Unterdrückung von People of Color. Hannah Arendt nimmt als Hannah Arendt einen Standpunkt ein , der ihr nach eigener Aussage unbekannt ist (11) und beschreibt die Welt in ihren Augen mit der Schlussfolgerung, die Entscheidung des Obersten Gerichts würde das Zusammenleben in der gemeinsamen Welt schädigen.
Welch starke emotionale Färbung ihr Urteil hat, jenseits der beinahe unerträglichen Arroganz, die aus ihren Sätzen strahlt und als »Olympian authority« (12) bezeichnet wurde, unterstreicht ein Brief, den Arendt am 29. Juli 1965 an Ralph Ellison sandte. Ellison äußerte sich zu Arendts Little Rock-Essay in einem Interview. Er führte Arendts Meinung auf ihre völlige Unkenntnis des Kontextes zurück. Die Entscheidung der schwarzen Eltern, ihre Kinder der täglichen Gewalt in den ehemals segregierten Schulen auszusetzen, sei Teil der Vorbereitung der Kinder auf den Horror des Erwachsenenlebens als PoC in den Vereinigten Staaten von Amerika. Den rassistischen Hass in der Schule täglich zu erfahren, sei ein Initiationsakt, die erste Konfrontation mit dem späteren Alltag. Arendt las dieses Interview und beichtete Ellison in dem privaten Brief, schon immer geahnt zu haben, dass sie irgendwie falsch gelegen habe. Nun wüsste sie Dank Ellison endlich, warum: Sie habe die bewusste Entscheidung der Eltern nicht einmal in Betracht gezogen. Ihr Fokus lag schließlich auf »the element of stark violence, of elementary, bodily fear in the situation.« (13).
So wie Arendt in ihrer frühen Monografie Rousseau vorwarf, aus Gefühlen eine verschlossene und eindeutige Welt zu erzeugen, konstruierte sie durch die selektive Bezugnahme auf bestimmte Emotionen das Urteil darüber, was im Sinne der Sorge für die gemeinsame Welt ist und was dagegen. Die angstdominierte Annahme erlaubte es ihr nicht, von den realen Ereignissen, ihrer Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit und ihrer paralysierenden Wirkung betroffen und berührt zu werden. Dass Mut, Stolz, die Bereitschaft, sich der Diskriminierung auszusetzen, eine Entschlossenheit, für die eigenen Rechte und Gleichheit zu kämpfen und Wut über die seit Generationen erlittene Unterdrückung affektive Erfahrungen der Betroffenen waren, begriff Arendt nicht. Auch versäumte sie, zu fragen, wie die Welt in ihren Augen aussah.
III. In Beziehung treten
Die Methode der erweiterten Denkungsart soll nach Arendts Absicht garantieren, dass das getroffene Urteil nicht subjektiv bleibt, sondern die Pluralität der Perspektiven auf die geteilte Welt repräsentiert und so die Abwesenden miteinbezieht. (14) Der Little Rock-Fall zeigt jedoch deutlich, dass der Besuch bei fremden Standpunkten zu keinem neutral(er)en Gesamtbild führt, im Gegenteil: Dem eigenen Gewordensein entkommt man ebenso wenig, wie sich die Betroffenen der Summe ihres Leides und seines Einflusses auf ihr Denken, Fühlen und auf ihre Weltwahrnehmung entledigen können. Darüber hinaus macht Arendts Brief an Ellison zwei weitere Probleme sichtbar. Erstens: Wenn es um diejenigen geht, die aus der weltkonstituierenden Mehrheit ausgeschlossen sind, fordert man ihren Miteinbezug oft mit Verweis auf ihre Nöte und das Leid, das ihnen widerfährt. Arendts emotionale Antwort auf diese Situation lässt sich auch in diesem Narrativ verorten, dasie die Angst der angegriffenen Kinder aufzeigt und in Berufung auf die zerstörerische Gewalt des Mobs die angestoßene politisch-gesellschaftliche Umwälzung verurteilt. Das Leid der anderen wird dabei paradoxerweise für die Rechtfertigung des Status quo eingesetzt. Aber auch unabhängig davon, wofür die fremden Nöte instrumentalisiert werden, besteht ein ausgeprägtes Machtgefälle zwischen denen, die ausgeschlossen sind und denen, die ihren Miteinbezug in Berufung auf das Erlittene fordern. Die da „draußen“ sind und bleiben die Bedürftigen. Für keine Sekunde wird ihre enorme Stärke sichtbar, die sie im täglichen Überleben beweisen und darin, dass sie sich trotz ihrer, an die Ränder der gemeinsamen Welt gedrängten Position, Verhör und Sichtbarkeit verschaffen. Das Mitgefühl mit den Leidenden verdrängt ihre Handlungsfähigkeit bzw. Agency und entmündigt sie zum wiederholten Male. Sie sind Empfänger, nicht aber Gestalter der gemeinsamen Welt. Zweitens: Was einen auf einer affektiven Ebene anspricht, wovon man sich berühren lässt, unterliegt genauso einem gesellschaftlichen Normierungsprozess, wie z.B. die Gesetzgebung oder die Entscheidung über die staatliche Mitfinanzierung des Gesundheitswesens. Was berührt, durchlief schon den Prüfprozess des legitimen Leides, des nicht-selbstverschuldeten Schicksalsschlages oder die Kriterien einer selbstaufopfernden heroischen Tat. Arendt ist von der Furcht erschüttert, die die angegriffenen Kinder mitten im lynchdurstigen Mob gefühlt haben müssen, von ihrer »elementary, bodily fear«. Geprägt aber von einer rassistisch gesinnten weißen Mehrheitsgesellschaft, bleibt sie von der heroischen Einforderung von gleichen Rechten, der wiederständigen Wut oder der revolutionären Hoffnung der Marginalisierten unberührt. Das alles nimmt sie nicht einmal wahr. Diese Unberührbarkeit verstellt das Bild, das Arendt von der gemeinsamen Welt und von der richtigen Sorge um sie entwickelt.
Hier fällt Arendts politisches Denken hinter seinen eigenen Anspruch zurück. Statt politische Theorie zu schreiben, war Arendts offen kommuniziertes Ziel, partikulare (historische) Erfahrungen sichtbar werden zu lassen. (15) Aus diesen Einzelerfahrungen soll einerseits die Pluralität der Menschen vernehmbar werden. Andererseits soll sich in der Vielstimmigkeit die gemeinsame, die miteinander geteilte Welt abzeichnen. Um also das Gemeinsame definieren zu können, müssen unzählige partikulare Perspektiven von einzelnen Menschen sicht- und hörbar werden. Dabei geht es weniger um die Einzelschicksale als um den Weltausschnitt, der sich in der individuellen Erfahrung zeigt, d.h. um die Welt in deinen Augen. Dass der Kreis derjenigen partikularen Perspektiven, welche für die Gestaltung der Welt strukturgebend sind, ununterbrochen erweitert werden muss, ist die wichtigste Forderung der Gegenwart. Sie durchbricht die ignorante bis gewaltvolle Haltung, mit der Menschen in Erleidende und Gestalter aufgeteilt werden und verlangt die Anerkennung von Agency (eines Subjekt-Status) dort, wo nur Bedürftigkeit und Mangel gesehen wurden. Doch kann man dieser Forderung auf der systemischen Ebene nie gänzlich nachkommen. Systeme kategorisieren, um mit der großen Zahl des Partikularen umgehen zu können. In diesem kategorisierenden Prozess entsteht mit jeder Einschließung ein neuer Ausschluss. Es wird nie möglich sein, durch ein Idealsystem die Vielfältigkeit menschlicher Erfahrung, die unzählbaren Weltausschnitte, gebührend miteinzubeziehen.
Dafür ist ein Wechsel der Ebenen notwendig, vom Strukturell-Systemischen hin zum Interpersonellen. Durch Arendts Werk zieht sich, wie ein roter Faden, eine Beziehungsarbeit: Der Gedanke, dass das In-der-Welt-Sein ein Bezug ist, ein Verhältnis zwischen den Menschen und der Welt, zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen, zwischen dem Einzelnen und seiner (politischen) Gemeinschaft. Diese Beziehung bleibt nur dann lebendig, wenn sie nicht nur vom Bekannten berührbar ist, sondern auch von dem, was man selbst nicht nur nicht erfahren, sondern auch nicht einmal gedacht hat. Dieses Unbekannte, was jedoch berühren kann, erschließt sich nur in der Beziehung zum Anderen. Diese Beziehung ist schließlich auch, was die gemeinsame, miteinander geteilte Welt für jeden einzelnen erfahrbar macht.
Arendt beschreibt Sokrates als den Beziehungsstifter der Polis. Sokrates habe gewusst, so Arendt, dass gemeinsame Gesetze und eine gemeinsame Stadtmauer noch kein Gemeinwesen stifteten. (16) Dieses entstehe nur im Gespräch der einzelnen, das zwischen den Bürger:innen ein Beziehungsnetz spannt. Erst durch diese Verflechtungen wird die »comonness of the political word« (17) zur individuellen Erfahrung der einzelnen. Dieser politische Beziehungsaufbau ermöglicht es, die Welt aus dem Blickwinkel des anderen kennen zu lernen, seinen Weltausschnitt in das Gesamtbild der geteilten Welt einzufügen.
Für die Sorge um die Welt, für ihre Bewahrung, ihre (Wieder-)Herstellung, ihre Revision oder auch für das schlichte Nachdenken über sie gilt natürlich weiterhin, dass die ernstgenommene Pluralität grundsätzlich Spannung bedeutet und keine harmonische Mehrstimmigkeit. Wenn das, was als die gemeinsame Welt gilt, veränderbar ist, bedeutet das nicht nur, dass das Gesamtbild der Welt ein anderes wird. Es bedeutet auch, dass in dieser gemeinsamen Welt der eigene Platz verschoben wird. Die Einbindung der partikularen Perspektiven führt nicht nur zu mehr Vielfalt, sondern potenziell auch zum Einbußen der eigenen Bedeutsamkeit. Die Einfügung der Weltausschnitte der anderen macht verletzlich und es kann einem sogar schaden. Das ist auch richtig so. Denn das ist der Preis, den ich zahle, um die Welt in deinen Augen zu sehen.
Anmerkungen:
(1) In meinem Buch (Héla Hecker: »Berührbarkeit als conditio humana. Emotionale Phänomene in Hannah Arendts politischem Denken«, Bielefeld:2021) lege ich eine neue Interpretation emotionaler Phänomene in Arendts Werk vor. Meine These ist dabei, dass Arendts politisches Denken um die Figur der (menschlichen) Berührbarkeit zentriert ist. Entwicklungen einer politischen Gemeinschaft werden aus der Perspektive bewertet, ob sie die Berührbarkeit der Akteure zerstören oder sie für die Affizierung von einem außen öffnen. Totalitäre Struktur ist eine extrem unberührbare Ordnung, in der die Gemeinschaft und auch der Einzelne durch Gewalt bis hin zum bloßen und automatisierten Reagieren abgestumpft wurde. Revolutionen dagegen sind Momente radikaler Berührbarkeit und so der Offenheit für die Umwälzung und für das Neue. Von der Berührbarkeit her gedacht können Gefühle sowohl verschließend als auch öffnend wirken. Gleiches gilt sowohl für das Denken als auch für die Form des politischen Miteinanders. Einander widerstrebende Instanzen sind somit nicht Vernunft und Gefühl, sondern berührbare und unberührbare Formen des In-der-Welt-Seins. Durch die Berührbarkeit wird der Bezug zu dem außen (den anderen, der Welt) zentral gestellt.
(2) In On Revolution übt Arendt Kritik am Mitleid (pity) und grenzt es vom Mitleiden (compassion) ab. Im Gefühl des Mitleids erkennt sie eine Selbstreferenzialität: Während sie die mitfühlende Person moralisch erhöht, bleibt es unberührt vom tatsächlichen, erlittenen Leid des Einzelnen. Demgegenüber ist Mitleiden kein Gefühl, sondern ein pathos, das tatsächliche Mitgerissensein vom Schmerz des Anderen. Im Gefühl des Mitleids sieht Arendt ein politisches Instrument, das die Machtergreifung der öffentlich Mitfühlenden ermöglicht. Ausführlicher dazu: Hecker: »Berührbarkeit…«, S. 31-36.
(3) Hannah Arendt: »A Reply to Critics«, in: Dissent 1(2), Spring 1959, S.179.
(4) Hannah Arendt: »Reflections on Little Rock«, in: Dissent 6(1), Winter 1959, S. 45-56. Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte dieses Textes ist einer der interessantesten Momente in der Intellektuellengeschichte. Die Monografie von Kathryn T. Gines (»Hannah Arendt and the Negro Question«, Bloomington, Indiana: 2014) fasst sie am detailliertesten zusammen. Die Rezeption, sowohl die kritischen als auch die apologetischen Stimmen, bezieht sich jedoch vor allem auf den Aufsatz von Arendt, nicht aber auf ihre
anderen Schriften, die im Kontext der Veröffentlichung entstanden sind, obwohl diese sehr aufschlussreiche Einblicke in Arendts Gedankengang bieten.Ausführlicher dazu: Hecker: »Berührbarkeit…«, S. 154-161.
(5) Hannah Arendt: »On Violence«, in: Dies.: Crises of the Republic, San Diego/New York/London:1969, S.103-198.
(6) Ebd., S. 192.
(7) Zumal sich solche Äußerungen in Arendts Schriften vermehrt finden lassen. Beispielsweise beschreibt Arendt in Elemente und Ursprünge… das Aufeinandertreffen von Kolonialisierenden und Indigenen in Afrika (vgl. Hannah Arendt: »The Origins of Totalitarianism«, S. 189-197.) auf eine höchst problematische Weise. Ihr Bild der Indigenen zeichnet Menschen ohne Kultur, ohne Geschichte, ohne politische Institutionen. Ein weiterer prominenter Fall ist Arendts Brief an James Baldwin vom 21. November 1962. Arendt fühlte sich »entitled to raise objections«, nachdem sie Baldwins frisch veröffentlichten Artikel (»Letter from a Region in My Mind«, in: New Yorker, 17. November 1962, 59–144.) über das »Negro problem« gelesen hatte. Arendt berichtigt Baldwin in diesem Brief und geht gar nicht darauf ein, dass das eigentliche Problem – wie Baldwin argumentiert – ein ›weißes‹ sei. (Arendts Brief befindet sich in ihrem Nachlass in The Library of Congress, abrufbar unterhttp://memory.loc.gov/mss/mharendt_pub/02/020140/0010d.jpg, abgerufen am 27. 11. 2021.) Die auch in der deutschsprachigen Arendt-Rezeption wachsende Kritik an der rassistischen Gesinnung in Arendts
Texten diskutiert vor allem die Ob-Frage: War Arendt eine Rassistin oder nicht? Aufschlussreicher finde ich jedoch die Frage, wieRassismus in Arendts Denken eingewoben ist, worin er genau besteht. Im vorliegenden Text argumentiere ich dafür, dass die Abwertung und der Ausschluss durch die Zuschreibung niedriger politischer Motive und einer einseitigen Emotionalität stattfinden und sich in der Arendt’schen Methode der politischen Urteilsfindung manifestieren.
(8) Arendt: »On Violence«, S. 120f.
(9) Melvin Tumin: »Pie in the Sky. A Reply«, in: Dissent, 6(1), Winter 1959, S. 65.
(10) Arendt: »A Reply…«, S. 179.
(11) In den, ihrem Essay vorangestellten, »Preliminary Remarks« schreibt Arendt: »Finally, I should like to remind the reader that I am writing as an outsider. I have never lived in the South […] Like most people of European origin I have difficulty in understanding, let alone sharing, the common prejudices of Americans in this area.«, Arendt: »Reflections…«, S. 46.
(12) Ralph Ellison: »The World and the Jug«, in: Ders.: Shadow and Act, New York:1964, S. 108.
(13) Der Brief befindet sich in Arendts Nachlass (Hannah Arendt Papers) in The Library of Congress und ist abzurufen unter: http://memory.loc.gov/mss/mharendt_pub/02/020340/0007d.jpg (abgerufen am 16.11.2021)
(14) Vgl. »Political thought is representative. I form my opinion by considering a given issue from different viewpoints, by making present to my mind the standpoints of those who are absent; that is, I represent them. […] this is a question neither of empathy, as though I tried to be or to feel like somebody else, nor of counting noses and joining a majority but of being and thinking in my own identity where actually I am not. The more people’s standpoints I have present in my mind while I am pondering a given issue, and the better I can imagine how I would feel and think if I were in their place, the stronger will be my capacity for representative thinking and the more valid my final conclusions, my opinion. (It is this capacity for an ›enlarged mentality‹ that enables men to judge […].) The very process of opinion formation is determined by those in whose places somebody thinks and uses his own mind, and the only condition for this exertion of the imagination is disinterestedness, the liberation from one’s own private interests.« Hannah Arendt:»Truth and Politics«, in: Dies.: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought, New York:2006, S.237.
(15) Vgl: »Keine Theorien! Vergessen Sie alle Theorien! Wir wollen mit der direkten Erfahrung konfrontiert werden […]«, Hannah Arendt: »Politische Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Seminarnotizen 1955 und 1968«, in: Hg.v. Wolfgang Heuer, Irmela von der Lühe: Dichterisch Denken. Hannah Arendt und die Künste, Göttingen:2007, S. 217.
(16) Vgl. Hannah Arendt: »Philosophy and Politics«,in: Social Research, Vol. 57, No. 1 (Spring 1990), S. 73-103.
(17) Ebd. S. 84.
Héla Hecker hat Kulturwissenschaft und Ästhetik in Budapest und Berlin studiert. Ihre Doktorarbeit erschien unter dem Titel »Berührbarkeit als conditio humana. Emotionale Phänomene in Hannah Arendts politischem Denken« (Bielefeld:2021).
Kommentar verfassen