Hannah Arendt: Übergängiges zwischen Privatem und Politischem

Ein Essay von Eva Geulen

Von Arendts Begabung zu Freundschaften, die Kritik nicht ausschlossen, vermitteln die in „Menschen in finsteren Zeiten“ (1968) versammelten Portraits einen Eindruck. Die literarischen Arbeiten von Hermann Broch, beispielsweise, schätzte sie sehr, stand aber seinen theoretischen Ambitionen wie seinen Vorstellungen einer adäquaten Menschenrechtspolitik extrem skeptisch gegenüber – und ließ das sowohl Broch wie die Öffentlichkeit auch wissen. Mit ihrem Brecht-Lob brach sie zugleich den Stab über den Autor, denn in Ost-Berlin habe er die deutsche Literatur-Tradition seit Goethe zu Ende geschrieben, sei also zu jenem Dichter-Typus geworden, der er nie sein wollte. Auch Walter Benjamin, mit dem sie privat sehr viel mehr verband als mit Brecht, kommt nicht ungeschoren davon. Zwar lobt Arendt sein „dichterisches Denken“, aber schonungslos stellt sie auch heraus, dass er sich an der Welt wiederholt versehen habe. Die Beispiele dokumentieren Arendts Fähigkeit, bei allem Einfühlungsvermögen und aller Sachkenntnis auf der eigenen Perspektive zu beharren, ohne die Freundschaft aufzugeben. Politisches und Privates trennte sie dabei offenbar weniger rigoros, als es in ihren Schriften häufig den Anschein hat.

Freundschaft gab es für sie auch mit Toten. Der erste Essay der Sammlung gilt der 1919 ermordeten Rosa Luxemburg. Über einen noch größeren zeitlichen Graben hinweg hat Arendt Rahel Varnhagen, mit der sie sich in ihrem zweiten Buch nach der Dissertation beschäftigt hatte, „ihre wirklich beste Freundin, die leider schon 100 Jahre tot ist“, genannt. Wie intensiv ihre Freundschaften insbesondere mit Frauen waren, erfährt man aus der Biographie Elisabeth Young-Bruehls, die auch eine Freundin war. Die Arendt-Ausstellung des vergangenen Jahres im Deutschen Historischen Museum in Berlin hat ebenfalls die Frauen in Arendts Leben in den Fokus gerückt. Eben deshalb war es etwas schade, dass und wie dort ein ziemlich teures Pelzjäckchen, ein Geschenk ihres Ehemannes Heinrich Blücher, ausgestellt wurde. In der dazugehörigen Vitrine befand sich ein Brief Arendts an ihren Mann, in dem sie ihn bittet, ‚das gute Stück‘ doch bitte während der Sommermonate einzumotten.

Damit wird indirekt ein Vorurteil bedient, dem Arendt in ihrer Reaktion auf die Eingangsfrage im berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus (1964) zu ihrem Status als Philosophin im Kreis männlichen Philosophen (und erste in dieser Reihe portraitierte Frau überhaupt) mittelbar Vorschub geleistet hat. Vehement verwahrt sie sich zunächst dagegen, ihre Arbeiten in ‚politischer Theorie‘ mit ‚Philosophie‘ verwechselt oder gleichgesetzt zu sehen. Dieser Unterschied rangiert für sie höher als der zwischen Männern und Frauen. Als Gaus nicht locker lässt, impertinent auf die Frage der ‚Emanzipation‘ und deren Bedeutung „für Sie persönlich“ zurückkommt, wechselt Arendt die Strategie: Das Problem sei wohl immer da, habe für sie jedoch nie eine Rolle gespielt, weil sie immer gemacht hätte, was sie wollte. Aber sie fügt auf undurchsichtig schillernde Weise noch eine Bemerkung über die „fraulichen Tugenden“ hinzu, die an das Pelzjäckchen erinnert: „Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt …“.. Die feministische Philosophin Astrid Deuber-Mankowsky hat ohne Bezug auf dieses Beispiel (im Katalog der oben erwähnten Ausstellung) von Arendts „Politik der Desidentifikation“ gesprochen. Und damit einen wunden Punkt der feministischen Arendt-Rezeption geschickt umschifft oder auch: behutsam ummäntelt.

Das maliziös platzierte Pelzjäckchen in der Berliner Ausstellung ist nämlich nur eine Spitze in der überwiegend frostigen Auseinandersetzung von FeministInnen unterschiedlicher Provenienz mit ‚der‘ Arendt. (Es ist seltsam, dass bei berühmten Frauen immer der bestimmte Artikel zum Zuge kommt. ‚Der Hegel‘ sagt man eigentlich nicht.) Bei diesen Diskussionen geht es nicht nur (aber doch immer wieder auch) um die Liebesbeziehung der jungen Arendt zu Martin Heidegger, dem sie, wie der stattliche Briefwechsel mit ihm zum Entsetzen vieler zeigte, freundschaftliche Treue bis zu ihrem Tod gehalten hat, ohne jedoch irgendwelche politischen Konzessionen zu machen. Die theoretischen Einwände des Feminismus gegen Arendt hat Judith Butler jüngst in dem Band „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“ noch einmal zusammengefasst. Über die Beiträge der Essay-Sammlung „Feminist Interpretations of Hannah Arendt“ von Bonnie Honig (1995) gelangt sie nicht hinaus.

Im Fokus der Kritik stand und steht die von Arendt vermeintlich rigide verteidigte und nostalgisch rückwärtsgewandte Unterscheidung zwischen öffentlich und privat. Ihr Politik-Ideal sei die griechische Polis gewesen, von deren politischem Leben Frauen und Sklaven nicht nur ausgeschlossen waren, sondern das durch deren Arbeit überhaupt erst ermöglicht wurde. Dem Nachweis, dass das scheinbar Private immer auch eine politische Dimension hat – in der Zuspitzung von 1968, dass das Private das Politische ist – galten die Protest- und Bürgerrechtsbewegungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Feminismus. Das nimmt sie zwangsläufig gegen Arendt ein.

Vergessen oder unterschlagen wird dabei, dass Arendts Politik-Ideal weniger an dem griechischen Stadtstaat als an der Römischen Republik mit seiner Vorform von Gewaltenteilung und seiner Bündnispolitik orientiert war. Vergessen oder unterschlagen wird dabei auch, dass sie seit ihrer Studie zu den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“ (1951) für die Moderne eine dritte, von ihr als ‚social‘ bezeichnete (also im Deutschen als ‚gesellschaftlich‘ zu übersetzende, aber nicht mit unserem Gesellschaftsbegriff zu verwechselnde) Austausch- und Zwischenzone anerkannt hatte, die sich zwischen die klassische Unterscheidung von Privatem und Politischem geschoben hat.

Das könnte man jetzt an einzelnen Texten Arendts und ihren politisch-publizistischen Interventionen entfalten, angefangen von ihrem Erstling „Wir Flüchtlinge“ (1943), an dessen Ende sie mittelbar eine jüdische Politik einfordert und ankündigt: „History is no longer a closed book (…), and politics is no longer the privilege of Gentiles.“ Aber wenn das Private tatsächlich auch politisch ist, was spricht eigentlich dagegen, sich der schwierigen Frage nach dem Verhältnis von öffentlich und privat bei Arendt einmal nicht vom Politischen und Öffentlichen her, sondern, umgekehrt, von dem her zu nähern, was als privat betrachtet wird?

Als vor zehn Jahren Margarethe von Trottas Arendt-Film in die Kinos kam (mit einer Barbara Sukowa in der Hauptrolle, die auf den ersten Blick gar nicht passe wollte), konnte man beobachten, wie Hannah Arendt ein Opfer des Kollapses ihrer eigenen Unterscheidung von privat und öffentlich wurde. Nach der Veröffentlichung des bis heute heftig diskutierten Berichts im „New Yorker“ über den Eichmann-Prozess in Jerusalem sieht man sie in ihrer New Yorker Wohnung über den gestapelten und überwiegend hasserfüllten Zuschriften – einen Shitstorm würde man das heute nennen – fassungslos in Tränen ausbrechen. Sie reagierte weder als Philosophin noch als politische Theoretikerin, sondern als Person. „Wenn man als Jude angegriffen wird, soll man sich als Jude wehren“, hatte ihre Mutter ihr früh beigebracht. Aber in diesem Fall sah sie sich nicht als Jüdin oder als Frau, sondern  als Privatperson angegriffen. Tatsächlich sind über dem ‚Eichmann-Skandal‘ manche ihrer längsten Freundschaften zerbrochen. Vielleicht hatte sie die Öffentlichkeitswirksamkeit des „New Yorker“ unterschätzt, vielleicht auch ihre Resilienz als private Person überschätzt.

Meine jüngeren Kolleginnen bemängelten an dem Arendt-Film vor allem das in ihren Augen Kitschige der Darstellung des Verhältnisses zu ihrem Ehemann Heinrich Blücher. Diese Bilder einer happy marriage, einschließlich freundschaftlichen Poklapsens, gehörten ihrer Meinung nach da so wenig hin wie das Pelzjäckchen in die Berliner Ausstellung.

Ich hatte den Film ganz vergessen, bis ich kürzlich Arendts Briefwechsel mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher las. Der acht Jahre ältere Blücher, kein Jude, aber Kommunist und deshalb, wie Arendt in einem Brief konzediert, eine kurz nach 1933 unwahrscheinliche Partner-Wahl, war wie Arendt aus Deutschland nach Paris geflohen. Er ist Geliebter und Gatte, aber auch mitdenkender Freund und Kollege, während ihrer Reisen dazu noch Sekretär und Auftragsempfänger. In diesem Briefwechsel kann man Arendt beim Arbeiten und Denken, beim Organisieren und Vermitteln, aber auch beim Lieben und Vertrauen, in einer ganz direkten Weise und vollkommen unzensiert zuschauen. Was es heißt, ein tätiges und urteilendes Wesen zu sein, wird einem hier in einer Sphäre vor Augen geführt, die in der Schublade ‚privat‘ auch in Momenten größer Intimität nicht ohne weiteres unterzubringen ist.

Aus Genf schreibt Arendt am 18.9.37 nach New York: „Sieh, Liebster, ich habe immer gewußt – schon als Gör -, daß ich nur existieren kann in der Liebe. Und hatte gerade darum solche Angst, daß ich einfach verloren gehen könnte. Und nahm mir meine Unabhängigkeit. Und bei der Liebe der andern, die mich für kalt erklärten, dachte ich immer: habt ihr ne Ahnung, wie gefährlich das ist und für mich wäre. Und als Dich dann traf, da hatte ich endlich keine Angst mehr (…). Immer noch scheint es mir unglaubhaft, daß ich beides habe kriegen können, die ‚große Liebe‘ und die Identität mit der eigenen Person.“

Von der Kälte, die man Arendt nachsagt und die in manchen bitterbösen Formulierungen dieses Briefwechsels auch zum Ausdruck kommt, ist hier die Rede als Kehrseite einer Existenz, die sich ihre Unabhängigkeit nahm und nehmen musste, weil sie wirklich nur in der Liebe existieren konnte und deshalb schon früh „Angst hatte verloren zu gehen“. Die Unabhängigkeit, die Arendt sich nahm, ist tatsächlich zunächst keine heroisch-emanzipatorische Selbstbefreiung, sondern Schutz-Reaktion auf die Angst, ohne Liebe leben zu müssen. Man kann darin durchaus ein Echo von Arendts Beschäftigung mit Rahel Varnhagen vernehmen. Auch jene trieb die Angst um, nicht dazu zu gehören, nicht geliebt zu werden und verloren zu gehen. Aber Rahel Varnhagen reagierte darauf ganz anders als Hannah Arendt, indem sie sich von einer Abhängigkeit in die nächste begab. Arendt fand mit Blücher, was sich auszuschließen schien und für ‚ihre beste Freundin‘ bis zum Ende ausschloss: „die große Liebe und die Identität der eigenen Person“. Dazu gehört auch der eigene Name, den Arendt in der Ehe mit Blücher anders als in der vorangegangenen mit Günther Stern nicht mehr aufgab.

Den Topos der ‚großen Liebe‘ hat Arendt vorsichtig in Anführungszeichen gesetzt. Sie fehlen bei der wuchtigen Aussage, „daß ich wirklich nur existieren kann in der Liebe“. Das könnte auch eine Anspielung auf ihre 1937 schon fast zehn Jahre zurück liegende Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustinus sein, in der sie die These vertrat, dass Augustinus die zwischenmenschliche Liebe über die Liebe zu Gott privilegiere.

Der knapp 30 Jahre umfassende Briefwechsel Arendts mit Blücher stellt beeindruckend unter Beweis, dass stockbürgerliche ‚domesticity‘ (Rezeptaustausch und Pelzjäckchen eingeschlossen) und umfassende politische Aktivität sich keineswegs auszuschließen brauchen. Vielleicht ist die Annahme, dass dem so sei, ein Vorurteil, das sich genau dem Glauben an die Unterscheidung von privat und öffentlich verdankt, den man Arendt als ‚Blauäugigkeit‘ vorhält. Von ihrem Leben könnte auf andere, aber verwandte Weise gelten, was der Philosoph Hans Blumenberg von Goethe sagte. Das Leben des Weimarer Hofmannes sei zwar gewiss „kein exemplarisches“ gewesen, sondern von sozusagen Eckermann’scher Durchschnittlichkeit. Aber es habe eben die Totalität eines Lebens gehabt, das seines und nur seines war: „Die anderen werden nicht entwertet, wenn Einer vollendet, was allen möglich ist“.

Eva Geulen ist Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Buchempfehlungen zum Artikel: „Das Ende der Kunst“ von Eva Geulen, „Feminist Interpretations of Hannah Arendt“ von Bonnie Honig und „Wir Flüchtlinge“ von Hannah Arendt

Mehr Beiträge zu Hannah Arendt finden Sie hier in der aktuellen Ausgabe des Agave Magazins.

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