Ein Gastbeitrag von Mauricio Salazar Lopez Ortiz
Hart Island“, New York City, Frühsommer 2020 – als die „Toten ohne Namen“ gehäuft in schwarzen Säcken, Kühlcontainern, Transportern und in einfachen Särgen im Stadtbild von New York auftauchten, fühlten wir uns in die schlimmsten Zeiten der Gewalt in Kolumbien und Mexiko versetzt. Auch dort werden Menschen zu Leichen ohne Namen, zu Objekten, Nummern und Überresten gemacht.
In New York versuchen wir genauer hinzuschauen, um die Komplexität des Sterbens aufgrund einer „unsichtbaren Ursache“ fassen zu können. Es sind Strukturen und soziale Konflikte, die eine bestimmte Gruppe von Menschen in der größten Volkswirtschaft der Welt besonders schlimm treffen. Viele Menschen haben vor der Corona-Pandemie noch nie etwas von „Hart Island“ gehört, der Insel, die seitdem im Rampenlicht steht. „Hart Island“ ist ein Massengrab für Menschen, die dort ihre Träume auf ein besseres Leben aufgrund der Überforderung in einer Leistungsgesellschaft, des sozialen Ausschlusses, der rassistischen Ausgrenzung und der diskriminierenden Strukturen ausgeträumt haben.
„Hart Island“ ist seit 1868 der Friedhof der Armen und gilt als der größte seiner Art weltweit – in einer Gesellschaft, die sich unter der Amtszeit von Präsident Trump nicht nur stark politisch polarisiert hat, sondern auch von großen sozialen Unterschieden geprägt ist.
Heute hat der riesige Friedhof wieder Konjunktur. Schlichte Holzsärge werden nebeneinander und übereinander gestapelt und mit Hilfe schwerer Maschinen begraben. Es ist das Ende einer Reise. Wer aber liegt in diesen Särgen?
Auf der Insel sind knapp eine Millionen Tote begraben: Arme, Obdachlose und Migrant_innen, die auf ihrer letzten Reise von den Häftlingen der nahegelegenen Gefängnisinsel Rikers Island „kostengünstig“ begraben werden. Es gibt keine Zeremonie, keine Namenserkennung. Das Ende einer menschlichen Existenz wird anonymisiert. Die Särge werden gestapelt, ähnlich wie auf einem Containerschiff, das auf Reisen geht. Plötzlich liegen Menschen zusammen, deren Gemeinsamkeit alleine Armut und Ausschluss sind – die Verlierer_innen der Gesellschaft.
Mauricio Salazar Lopez Ortiz
Eine Kollegin aus Mexiko spricht von fehlendem „bien morir“, dem „guten Sterben“, denn die Menschen auf „Hart Island“ wurden nicht würdevoll bestattet. Sie waren Personen mit Namen, Träumen, Familien und Freuden. Ihr Tod sollte nun als Aufruf für eine positive Transformation gesehen werden, um anderen Menschen den Zugang zu Gesundheit, Bildung und sozialer Sicherung zu gewähren – also zu „buen vivir“ (Sustainable Development Goal/Ziele nachhaltiger Entwicklung, Agenda 2030).
Immer wieder sind die Menschen von Tod und Ausschluss betroffen, die als Minderheiten, Indigene oder „People of Color“ bezeichnet werden. Sie können nicht zuhause bleiben, sie müssen Waren ausfahren, andere Menschen pflegen, die Ernte einfahren usw. Sie sind „systemrelevant“, doch nur um ein System aufrecht zu erhalten, das sie tötet oder ausschließt. Ein System, das ihnen den Besuch bei Ärzten_innen im Krankenhaus, Kurzarbeit oder Subventionen und am Ende des Lebens den Name und die eigene Geschichte verwehrt.
Der Neoliberalismus ist die Ursache. Währenddessen behauptet die größte Volkswirtschaft der Welt, sie müsse mehr Geld für Sicherheit ausgeben.
Die USA gaben 2019 ca. 732 Milliarden Dollar für Rüstung aus. Damit sind sie das Land mit den größten Ausgaben für Militär weltweit, gefolgt von China, so das Friedensforschungsinstitut Sipri in Stockholm. Die Ausgaben für Rüstung waren noch nie so hoch wie im Jahr 2019, alle Länder der Erde zusammen knapp 2 Billionen US-Dollar. Deutschland hat seine Verteidigungsausgaben 2019 besonders stark erhöht (49,3 Mrd. US-Dollar) und belegt Platz sieben der weltweiten Liste. Laut einer Studie des Graduate Institute of International and Development Studies gibt es in den USA mehr Schusswaffen als Menschen. Auf 100 Einwohner kommen 120 Gewehre und Pistolen in Privatbesitz. Die USA bewaffnen sich mit Millionen Waffen in Privatbesitz, aber unternehmen keinerlei Anstrengung, um soziale Sicherheit für eine große Gruppe der Gesellschaft zu gewährleisten.
Wie können wir damit umgehen?
Der New Yorker Künstler und Performer Alvaro Garcia Ordoñez macht durch künstlerische Formen das „Undenkbare“ für uns zugänglich. Einige seiner Werke, die in der Corona-Krise entstanden sind, kann man im Video sehen.
Kunst ist ein ästhetischer und zugleich sozialer Raum. Mit unserem Beitrag wollen wir die strukturellen Ursachen, sozialen Verbindungen und tiefe Ungleichheit ansprechen: Soziale Ungleichheit und der Verlust von Solidarität sind das Resultat eines neoliberalen Systems, in dem die Menschen und ihre Beziehungen ökonomisiert werden.
Diese Krise sollte eine Chance für uns sein, um eine Sozialpolitik aufzubauen, die allen Menschen ein würdevolles Leben und Sterben erlaubt. Eine nachhaltige Lösung ist nur in der Stärkung von kollektivem Handeln möglich.
Mauricio Salazar Lopez Ortiz
In Gedenken an alle ausgegrenzten und ausgeschlossenen Menschen, die in dieser Corona-Krise gestorben sind.
Mauricio Salazar Lopez Ortiz ist Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ bei der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Frieden und Transkulturalität.
Alvaro Garcia Ordoñez ist Künstler und Performer, und lebt in New York.
Die beiden verbindet eine langjährige Freundschaft und mehrere Kunstaktionen für den Frieden.
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